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Ich weiß, daß ich nichts weiß

Die klugen Worte meiner Großmutter

Meine Oma pflegte häufig zu sagen: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Schon als Kind habe ich über diesen Satz nachgedacht. Er kam mir irgendwie unnötig weil offensichtlich vor. Also habe ich darauf geachtet, wann meine Grossmutter ihn von sich gab, um herauszubekommen aus welchem Grund sie ihn einsetzte. Denn sie war eine sehr kluge und raffinierte Frau, der viel Achtung entgegengebracht wurde und sie verstand es auf subtile Art und Weise andere zu beinflussen.

Sie setzte diesen Satz gezielt ein

Ich stellte fest, daß sie den Satz zum Beispiel dann von sich gab, wenn sie mit hochgebildeten Menschen sprach und diese gerade versuchten ihr komplizierte Zusammenhänge zu erläutern. Dadurch, dass sie behauptete nichts zu wissen spornte sie ihr Gegenüber an, noch stärker auf sein Gesprächsthema einzugehen und es zu vertiefen. Ausserdem stellte sie sich als Nichtwisserin hierarchisch unter den Redner und brachte dadurch zum Ausdruck, Achtung vor ihm und seinem (möglichen) Wissen zu haben. Das schmeichelte diesem natürlich und schaffte eine entspannte Gesprächsathmosphäre. Raffinierterweise sagte meine Oma aber nicht: „Darüber weiß ich nichts“ sondern „Ich WEISS, dass ich nichts weiß“

Weil er von Platon stammt hat man Respekt

Als Kind hat mich das sehr beeindruckt. Erst sehr viel später fand ich heraus, daß der Satz von Platon stammt. Wenn der jeweilige Gesprächspartner meiner Oma also tatsächlich einigermaßen gebildet war, dann machte dieser Satz ihn natürlich hellhörig, da er implizierte, daß meine Grossmutter Cicero, Socrates und Platon nicht nur in ihrem Bücherregal stehen hatte, sondern sich tatsächlich mit dieser Lektüre auseinandersetzte. Das erhob sie trotz der Bekenntnis des Nichtwissens auf Augenhöhe mit dem Redner und brachte ihr (noch mehr) Respekt ein. Zwei Intelektuelle unter sich sozusagen.

Die Komik dahinter nimmt niemand wahr

Eigentlich würde ich meine Oma nicht als Intelektuelle bezeichnen, aber sie war in bestimmten Themenbereichen sehr belesen und hatte sich über die vielen Jahre (sie starb mit 96) einen enormen Wissensschatz angeeignet. Das verleiht dem Spruch Platons in meinen Augen bzw Ohren eine gewisse Komik. Allerdings scheint diese außer mir nie jemand wahrgenommen zu haben, selbst oder insbesondere meine Oma nicht. Dann hätte sie möglicherweise diesen Satz nie mehr benutzt. Denn ich glaube nicht, daß es ihre Absicht war, komisch zu wirken.

Die Wirkung des anscheinend Tiefgründigen

Aber zurück zum imaginären Gespräch. Natürlich gab es auch Gesprächspartner, die die Herkunft des Satzes NICHT kannten. Er funktionierte aber dennoch hervorragend, da er so die selbe Wirkung hatte wie auf mich als Kind. Er klang für mich damals so, als wäre hinter ihm irgend ein tiefgründiger Sinn verborgen, den man aber irgendwie nicht so recht greifen konnte.

Vergleich mit dem japanischen Koan

Heute denke ich dabei an ein japanisches Koan wie zum Beispiel: „Was hörst du wenn du mit einer Hand klatschst?“ Die offensichtliche Absurdität dieses Satzes soll beim Meditieren dazu führen, daß das Denken verblasst. Die Logik bzw Unlogik der Aussage ist nicht greifbar. Und wenn man die Worte im Kopf über längere Zeit wiederholt, dreht sich dadurch das Denken im Kreise und verebbt schließich ganz. Eine Technik, die auf diese oder ähnliche Art auf der ganzen Welt zu finden ist und letztendlich dazu führen soll der Erleuchtung etwas näher zu kommen oder sie gar zu erlangen. Denn wenn ein Raum (der Kopf) bis oben hin vollgestopft ist mit allem möglichen Müll (den Gedanken), dann kann natürlich kein Licht hineingelangen. Erleuchtung adieu. Darüber wußte ich damals nichts, aber irgendwie kann man, selbst ohne nachzudenken, also rein intuitiv und emotional, diesen spirituellen Ansatz spüren. Mir ging es jedenfalls so. Und ich glaube, dem Gegenüber meiner Großmutter auch.

Die Herkunft der Worte wird nicht erwähnt

Interessanterweise gab meine Oma genau durch die Beteuerung nichts zu wissen jedem das Gefühl, daß sich hinter ihren Worten ein großes Wissen verbarg. Was in gewisser Weise auch stimmte. Ich habe übrigens nicht beobachtet, daß sie die Herkunft der Worte je erläuterte. Auch ein kluger Schachzug. Dadurch bekommt das Gespräch mit dem, derPlaton gelesen hat, einen gewissen Verschwörungs-Charakter und der , der ihn nicht kennt, fühlt sich nicht bloß gestellt.

Ich experimentierte als Kind mit dem Satz

Da es damals kein Internet gab und ich Onkel Google und Tante Wiki nicht nach den Zusammenhängen fragen konnte, hat mein neugieriges Wesen später dazu geführt, daß ich selber Experimente mit diesem Satz durchführte. Bei Erwachsenen funktionierte er nicht, das merkte ich sofort. Die meisten kannten meine Oma und wussten natürlich, daß ich den Spruch bei ihr aufgeschnappt hatte. Und die anderen hörten irgendwie heraus, daß ich leere Worthülsen nachplapperte, die keinen Sinn für mich ergaben. Außerdem ging man davon aus, daß ich in dem Alter noch nicht Platon gelesen hatte. (Warum eigentlich?) Unter Gleichaltrigen wurde der Spruch ignoriert oder mit zum Himmel gerichteten rollenden Augen quittiert. Den erhofften Respekt, den meine Oma normalerweise mit diesen Worten erntete, erhielt ich jedenfalls nicht.

Die Betonung verändert die Bedeutung

Dennoch ließ mich das Ganze nicht in Ruhe. Sogar bis heute, wie du gerade siehst. Und weil ich ein Spielratz war (und immernoch bin) und der Satz auch eine gewisse Musikalität besitzt, begann ich rhythmisch mit ihm herumzuspielen. Ich fand heraus, daß die Betonung der Worte einen riesigen Unterschied machen kann. Sage ich zum Beipiel: „ICH weiß, daß ich nichts weiß“, hört sich das für mich so an, als ginge es weiter mit: „Und DU weißt es nicht. Ätsch. Und so soll es auch bleiben.“ Betone ich dagegen: „Ich WEISS, daß ich nichts weiß“, dann heißt das vielleicht: „Na wenigstens WEISS ich es. Ich könnte also etwas ändern“ Oder es bedeutet: „Ja, ja, ich WEISS doch. Lass mich damit in Ruhe!“ Sage ich: „Ich weiß, daß ICH nichts weiß“, so heißt das vielleicht, daß es durchaus andere gibt, die es sehr wohl wissen. Bei der Betonung „Ich weiß, daß ich NICHTS weiß, muß ich unweigerlich daran denken, daß es soooo viel Wissen in der Welt gibt, daß diese paar Gedanken in meinem kleinen Kopf so lächerlich wenig sind wie ein paar Sandkörner am Strand.

Mein Betonungs-Favorit

Schon damals habe ich mir aus all diesen Varianten der Betonung meinen Favoriten herausgesucht. Nämlich: „ Ich weiß, daß ich nichts WEISS“ Diese Aussage gibt meinem Denken und meiner Fantasie die absolute Freiheit. Alles ist möglich. Vielleicht bin ich ein Gehirn in einer Petrischale und mein ganzes Leben findet nur imaginär in meinen grauen Zellen statt. Ich weiß es nicht. Vielleicht existiere ich gar nicht oder ganz anders als ich es mir vorstelle. Ich weiß es nicht. Möglicherweise gibt es aber doch ein physisches Leben und ich bin Anni Lenz, die Jodlerin, aus Fleisch und Blut. Ich weiß es nicht. In vielen Filmen wird dieses Thema aufgegriffen. In „Matrix“ zum Beispiel und auch in „Avatar“. Mir persönlich macht das große Unwissen keine Angst. Im Gegenteil. Es beflügelt nicht nur die Fantasie sondern auch das Handeln. Denken-Fühlen-Tun. Alles ist möglich. Du hast die Wahl. (oder?)

Wissen und Wahrheit zu Zeiten der Pandemie

Solange ich denken kann habe ich diese unzählbaren Möglichkeiten und die damit verbundene unendliche Freiheit in mir gefühlt (denn es handelt sich tatsächlich mehr um ein Gefühl als um ein Gedankenkonstrukt) und den Begriffen Wissen und Wahrheit stehe ich eher vorsichtig wenn nicht gar skeptisch gegenüber. Ich neige dazu alles in Frage zu stellen. Meistens halte ich das Gegenteil einer Aussage für mindestens genauso möglich wie die Aussage selber. Insbesondere, wenn von gesicherten Fakten die Rede ist. Diese meine Haltung hat sich durch die Zeit der Pandemie noch verstärkt, in der sich sogenannte „gesicherte Fakten“ innerhalb kürzester Zeit anscheinend ins Gegenteil verwandelten und immer noch verwandeln. Aber das ist ein anderes Thema…..

Lernend Wissen ansammeln

Dennoch eigne ich mir mit großem Eifer sogenanntes Wissen an. Ich lerne für mein Leben gern. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber es macht mir Spaß. Inzwischen kann ich sehr viele Musikinstrumente mehr oder weniger gut spielen und spreche zumindest ansatzweise die eine oder andere Sprache. Und es hat sich sehr viel „Wissen“ über Pflanzen und Tiere und die Zusammenhänge in der Natur in meinem Kopf angesammelt.

Wissen kann auch hinderlich sein

Dieses „Wissen“ -ich schreibe es bewußt in Anführungszeichen- kann mir dabei durchaus im Weg stehen. Hier ein Beispiel:
Ich bin (unter Anderem) Goldschmied. Nachdem ich mehrere Jahre in diesem schönen Beruf gearbeitet hatte, wollte ich vor vielen Jahren meine Kenntnisse und Fähigkeiten vertiefen und hatte angefangen Freie Kunst zu studieren, natürlich zunächst in der angebotenen Schmuck- und Kleinplastik-Klasse. Eines Tages hatte ich eine Kette entworfen, die einen besonderen Verschluß haben sollte, etwas Neues, eine eigene Erfindung sozusagen. Da ich aber in meiner vorherigen Grundausbildung, also in meiner soliden Goldschmiede-Lehre, gelernt hatte wie man Kettenverschlüsse auf die unterschiedlichste Art macht, waren diese gelernten Techniken zwar in meinem Kopf abrufbar, standen meiner Kreativität aber derartig im Weg, daß ich es nicht zustande brachte, frei an meine Aufgabe heranzugehen. Ich kam immer wieder auf die althergebrachten, in meinem Kopf gespeicherten Formen zurück und konnte mich nicht davon lösen. Es war wie eine starre Schablone. Tatsächlich habe ich damals aus diesen Gründen die Schmuck-Klasse verlassen und mich der Malerei zugewandt.

Kritischer Umgang mit fragwürdigem Wissen

Mein persönlicher Umgang mit Wissen ist ambivalent. Ja, Wissen macht frei. Aber eben nicht immer. Und ja, Wissen ist Macht. Und zieht daher auch Verantwortung nach sich. Vor allem aber: Wissen ist fragwürdig, anzweifelbar und mit Vorsicht zu genießen. Woher kommt das Wissen? Wer hat ein Interesse daran, daß ich an etwas glaube? Und warum? Gibt es nur eine Wahrheit? Gibt es überhaupt eine? Diese Fragen sind momentan so präsent wie nie zuvor. Es lohnt sich ihnen nachzugehen. Meine Oma, bzw Platon, hat mit einem kurzen Satz diese Lawine existenzieller Fragen ins Rollen gebracht:

„ Ich weiß, daß ich nichts weiß „

 

 

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Eine nachträgliche Bemerkung

Nachdem ich nun zum zweiten Mal darauf hingewiesen wurde, dass der Satz nicht von Platon, sondern von Sokrates stammt, möchte ich dazu noch etwas sagen:

Sokrates selbst hat nichts Schriftliches hinterlassen. Das, was wir von ihm zu wissen glauben, haben seine Schüler aufgeschrieben. Das Meiste davon Platon. Möglicherweise hat tatsächlich Sokrates gesagt: „Ich weiß, daß ich nichts weiß“. Aber vielleicht hat Platon es ihm auch einfach in den Mund gelegt, weil er es passend fand. Wer weiß? Deshalb empfinde ich den Satz als Platon zugehörig. Ich hoffe, niemand nimmt mir diese kleine Freiheit übel.

Komischerweise ordne ich aber einige meiner Lieblings-Zitate eindeutig Pippi Langstrumpf zu und würde nie auf die Idee kommen, Astrid Lindgren darunter zu schreiben (obwohl manche Leute es so handhaben). Das ist jedoch etwas Anderes. Pippi ist, im Gegensatz zu Sokrates, eine frei erfundene Figur. Dass ihre Geschichten von Astrid Lindgren und nicht von Platon geschrieben sind, weiß wahrscheinlich jeder.

Ich finde, dass es egal sein sollte, ob man den Namen des Autors oder der Figur unter ein Zitat schreibt, denn eigentlich sind sie nicht zu trennen.

 

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Dieser Beitrag hat 6 Kommentare

  1. Inge Auer

    Liebe Anni, du schreibst einfach wunderbar. Ich sehe deine Oma vor mir, mit schelmischen Augen ihrem Gesprächspartner lauschen und dann die Antwort von Sokrates oder Platon, 😉 , besser gesagt „von deiner Oma“.
    Liebe und herzliche Grüße und einen abrazo fuerte, wo du gerde bist. Eine schöne Adventszeit noch! Herzlichst, Inge

    1. Anni

      Es freut mich sehr, dass du meine Oma durch meinen Artikel vor dir sehen kannst und ich ihr so ein kleines Denkmal setzen konnte. Danke für deinen lieben Kommentar.
      🙂

  2. Birgit Mayer

    Schöner Artikel, was doch so alles in diesem kleinen Satz steckt! Stimmt, machmal ist einem zuviel Wissen im Weg. Ich arbeite seit über 15 Jahren selbständig in der Gartenpflege. Da ich das nie „gelernt“ habe, sondern mir selbst angeeignet habe, musste ich vieles sozusagen im Vorbeigehen von Kollegen abschauen. Manche Arbeitstechniken habe ich aber auch selbst durch Ausprobieren entwickelt, habe Werkzeuge an meine Bedürfnisse angepasst und festgestellt, dass einige ganz gute „Erfindungen“ dabei sind; manches geht mir besser, bequemer, schneller von der Hand als meinen Kollegen. Nichtwissen ermöglicht oft einen unvoreingenommenen Blick.

    1. Anni

      Ja, genau das meinte ich. Je weniger vorgefertigtes Wissen das selbstständige Denken behindert, desto eher kommen geniale Erfindungen zustande.

  3. Zantow, Jörg

    Hallo Anni, das hast du sehr schön geschrieben und es vermittelt mir eine neue Ansicht zur Betrachtung von Wissen.
    Dankeschön 🙂
    liebe Grüße
    Jörg

    1. Anni

      Freut mich sehr, daß ich einen kleinen Denkanstoß geben konnte.

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